Meister der Kurzgeschichte: Keiner beschrieb das Trümmer-Deutschland wie er – vor 75 Jahren starb Wolfgang Borchert
Er gehörte zu den wichtigsten Erzählern der Trümmerliteratur: Wolfgang Borchert erzählte vom Deutschland nach dem Zusammenbruch – und brauchte oft nur wenige Seiten, um das tiefe Elend fühlbar zu machen. Vor 75 Jahren starb er mit nur 26 Jahren.
In der Stunde seines großen Triumphes saß er im Dunkeln und bekam nichts mit: Am 13. Februar 1947 übertrug der Nordwestdeutsche Rundfunk "Draußen vor der Tür", das Hörspiel des damals weitgehend unbekannten Autors Wolfgang Borchert. Es wurde ein spontaner Erfolg: In dem Drama um einen Kriegsheimkehrer hatte Borchert viele seiner eigenen Erfahrungen verdichtet – und damit den Nerv von Millionen Deutschen getroffen, die ähnliches erlebt hatten.
Der zu dem Zeitpunkt 25-jährige Autor gab den vielen jungen Menschen eine Stimme, die ihre besten Jahre für ein Regime vergeudet hatten und in verbrecherische Angriffskriege zogen. Die wenigen, die in die zerbombte Heimat zurückkamen, waren – wie auch Borchert selbst – von den Erlebnissen schwer gezeichnet. "Borcherts Schrei löste tausend Zungen in dem verwüsteten und darbenden Deutschland", urteilte sein Verleger Bernhard Meyer-Marwitz damals.
Borchert selbst konnte sein eigenes Stück zunächst nicht hören: Aufgrund einer Stromsperre saß er in seiner elterlichen Wohnung in Hamburg-Alsterdorf buchstäblich im Dunkeln. Erst in den folgenden Wochen wurde ihm das Ausmaß seines Erfolges bewusst: Er bekam massenweise Briefe und wurde plötzlich als ernstzunehmender Dichter wahrgenommen.
Wolfgang Borcherts "unvermittelte Geburt des Vermögens"
Eine erstaunliche Wendung für einen jungen Künstler, der bis zu dem Zeitpunkt noch nichts von Belang veröffentlicht hatte. Und der erst kurz zuvor seine eigene Stimme fand. Es waren vor allem Kurzgeschichten, in denen er sich ausdrückte.
Wie es zu diesem abrupten Ausbruch von Originalität und Schaffenskraft kam, lässt sich rückblickend kaum erklären. "Die wider Vernunft und Erklärungsversuche unvermittelte Geburt des Vermögens", nennt Biograf Peter Rühmkorf das plötzlich erwachte Genie. Es war eine kreative Eruption ungekannten Ausmaßes, die umso erstaunlicher ist, als dass Borchert von Diphterie und Gelbsucht schwer gezeichnet aus dem Krieg heimgekehrt war.
Es waren zwei Dinge, die bei Wolfgang Borchert auf wundersame Weise zusammenkamen: Er wählte die triste Gegenwart der 40er Jahre als Thema – und fand einen neuen Stil. Ursprünglich vom Expressionismus beeinflusst, schlugen seine neuen Werke einen anderen Weg ein. Nicht die moralisch unbefleckten deutschen Exilliteraten Thomas Mann und Hermann Hesse waren ihm Leitstern. Borchert verband vielmehr die düstere Realität im Nachkriegsdeutschland mit der erzählerischen Ökonomie, wie man sie von amerikanischen Schriftstellern wie Ernest Hemingway kennt.
Borchert schreibt wie im Rausch
Erstmals gelang ihm das in der 1946 veröffentlichten Erzählung "Die Hundeblume", in der Borchert seine eigene Inhaftierung in einem NS-Militärgefängnis verarbeitet. Es war so etwas wie eine Initialzündung. Wie im Rausch produziert Borchert nun Texte, in denen er Fronterlebnisse schildert oder vom Leid der Zivilisten daheim berichtet.
Manchmal verschränkt er beides ineinander, wie in der meisterhaften Geschichte "An diesem Dienstag". Keine vier Seiten braucht der Schriftsteller, um in einer geschickten Montage neun Miniatur-Szenen ineinander zu verschränken, die abwechselnd von einem in Russland sterbenden Soldaten und seiner Frau an der Heimatfront erzählen.
Während ihr Mann im Lazarett seine letzten Atemzüge tut, hat die Gattin andere Pläne. "An diesem Dienstag spielen sie die Zauberflöte. Frau Hesse hatte sich die Lippen rot gemacht", heißt es lakonisch. Es ist diese Knappheit, die seine besten Erzählungen prägt, etwa "Die Küchenuhr" oder das heute noch in Schulen gelesene "Nachts schlafen die Ratten doch".
Der Autor selbst erlebt die Publikation dieser Geschichten nicht mehr. Als der Erzählband "An diesem Dienstag" erscheint, ist er seit wenigen Tagen tot. Wolfgang Borchert stirbt am 20. November 1947 im Spital in Basel. Er wird nur 26 Jahre alt.
Einen Tag später feiert "Draußen vor der Tür" an den Hamburger Kammerspielen Premiere. Es wird der zweite Triumph dieses Werkes, den Borchert verpasst.
Das Gesamtwerk von Wolfgang Borchert ist in zahlreichen Einspielungen auf Audible erhältlich. Besonders empfehlenswert ist die historische NDR-Produktion von "Draußen vor der Tür" aus dem Jahr 1952 – mit Hans Paetsch als Erzähler, Gustl Busch als Elbe und Inge Meysel als Frau Kramer. Unter den zahlreichen Vertonungen von Borcherts Gesamtwerk ragen die von Schauspieler Florens Schmidt 2019 eingesprochenen "Sämtliche Erzählungen" heraus.