Bulimie: Die Tochter zieht wieder zu Hause ein und die Eltern merken: Da stimmt was nicht
Bulimie ist ein belastendes Thema. Als das erwachsene Kind coronabedingt wieder zu Hause einzieht, wird sichtbar, was lange im Verborgenen geschah. Wie können die Eltern mit der Erkrankung ihrer Tochter umgehen?
Frau W.*, 54, kommt in meine Online-Sprechstunde. Sie ist Führungskraft in einem mittelständischen Unternehmen, hat eine beachtliche Karriere hingelegt. Dafür hat sie viel geopfert, wie sie sagt – vor allem Zeit mit ihrer Tochter Ava, 21. Frau W. vermutet hier den Grund, warum sie heute bei mir sitzt. Bestimmt wäre alles anders gekommen, wenn sie mehr zu Hause gewesen wäre…
Worum es geht, ist schnell erzählt: Nach einem Top-Abitur studiert ihre Tochter seit eineinhalb Jahren Jura in Passau. Im Corona-Jahr ist ihr dort die Decke auf den Kopf gefallen. Nachdem es der Tochter psychisch immer schlechter ging, haben Frau W. und ihr Mann sie zurück zu sich nach Hamburg geholt.
Der Tochter ging es recht schnell sichtlich besser. Aber Frau W. beobachtete mehr und mehr seltsame Dinge: Sie konnte gar nicht so schnell einkaufen, wie der Kühlschrank wieder leer war. Klar, nun war eine Person mehr im Haushalt, aber so viel mehr? Frau W. hatte schon einen Verdacht, der sie sehr besorgte. Deswegen begann sie mit der Zeit, Buch zu führen: Was sie wann gekauft hatte, wann sie was gegessen hatte und wann ihr Mann. Der erklärte sie zunächst für verrückt und fand, dass diese Art heimlicher Kontrolle der Tochter nicht fair sei und deutlich zu weit ginge. Seine Haltung verunsicherte Frau W.. Aber das war ja leider nicht alles...
Liste voller Auffälligkeiten
Gemeinsam mit Frau W. erstellen wir eine Liste weiterer Auffälligkeiten, die sie an ihrer Tochter seit dem Wiedereinzug beobachtet hatte: Ava zog sich immer mehr in ihr Zimmer zurück. Sie schloss die Tür sogar ab. Manchmal war sie sehr lange auf der Toilette, oft mehr als eine halbe Stunde, und währenddessen lief meist der Wasserhahn. Manchmal meinte die Mutter, Brechgeräusche zu hören. Auch fehlte erstmals Geld in der Haushaltskasse in der Küche… und Avas Konto war total überzogen. Als Ava dann wie jeden Tag joggen ging, schlich Frau W. in ihr Zimmer und fand Unmengen an verstecktem Essen und Essensresten. Kurz überschlagen musste Ava in den letzten Wochen mehr als 35 Euro am Tag für Essen ausgegeben haben.
Dies war der Moment, an dem sich die Eltern mit Ava hinsetzten und mit ihr reden wollten. Ihr helfen wollten. Aber die Tochter stritt alles ab. Sie fühlte sich von ihren Eltern verraten. In den darauffolgenden Wochen versuchte Frau W., die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie kaufte restriktiv ein, hängte ein Schloss an den Kühlschrank. Die Eltern versuchten, ihrer Tochter ein möglichst gesundes Essverhalten vorzuleben – was Frau W.'s Mann allerdings wahnsinnig machte. Es ging plötzlich nur noch um Avas Essverhalten. Es krachte andauernd und Ava zog sich immer mehr zurück.
An diesem Punkt hat sich Frau W. zum Glück selbst Hilfe geholt. Ich mache ihr klar, dass sie ohne es zu wissen oder zu wollen, versucht hat, die ganze Verantwortung für Avas Krankheit – der Bulimie – zu übernehmen. STERN PAID 12_21 Feierabend-Falle 17.45
Wie die Eltern helfen können
Wir besprechen, wie es für Frau W. und ihren Mann weitergehen kann und bereiten ein etwas anderes Gespräch mit ihrer Tochter vor: In diesem Gespräch geben die Eltern die Verantwortung für ihre Bulimie und damit auch für ihr Gesundwerden an Ava – und ziehen sich selbst zurück aus der Kontrolle. Das meint, dass sie der Tochter zunächst klarmachen, dass sie sich große Sorgen machen. Dass sie glauben, dass Ava unter der Ess-Brechsucht Bulimie leidet. Diese Annahme unterstreichen sie bestenfalls mit der Auflistung von beobachtetem Verhalten.
Sie machen klar, dass sie ihr helfen können, den eigenen Weg in die Gesundung zu finden: zum Beispiel, indem die Eltern mit Ava gemeinsam zu einer Beratungsstelle gehen – dass die Tochter den eigentlichen Weg aber selbst werde gehen müssen. Sie können ihr in dem Gespräch zusagen, sich als Eltern im Weiteren möglichst rauszuhalten aus ihrer Krankheit. Dafür hätten auch sie sich Hilfe geholt und ließen sich begleiten.
Gleichzeitig setzen sie in diesem wichtigen offenen Gespräch klare Grenzen für das weitere Zusammenleben: Das Bad muss weiterhin für alle zugänglich und frei von den säuerlichen Gerüchen bleiben. Ava könnte bei Anfällen das Gästeklo nutzen. Das Essen kauft Ava nun bitte selbst. Das Geld für das Essen könnte sie sich mit kleinen Jobs verdienen. Ein Schloss vor dem Kühlschrank wird es nicht mehr geben. Dafür kann Ava nun aber endlich ehrlich mit ihrer Krankheit umgehen – und die Eltern sie dabei auf eine für Ava erträgliche und hilfreiche Weise unterstützen.
Auch den Fall, dass die Tochter sich in diesem ersten Gespräch verweigert, besprechen wir in dieser ersten Stunde: Dann heißt es, ruhig, aber konsequent zu bleiben, Person und Sache zu trennen und Bedingungen auszuhandeln.
Der schwierigste Teil für Frau W. und ihren Mann wird in der kommenden Zeit sein, genau diesen Abstand zu wahren und Ava die Verantwortung für ihre Krankheit Bulimie zu überlassen: eine der größten Herausforderungen für liebende Eltern! Bestenfalls lassen sich beide Eltern in diesem Prozess unterstützen. Heilung bei Süchten geht leider nur in Eigenverantwortung des oder der Betroffenen.
Und so verabreden wir uns für eine weitere Stunde, damit das Elternpaar es schafft, durch das Heraustreten aus der Verantwortung Ava ihren eigenen Weg finden zu lassen. Bei dem Thema Bulimie gibt es keine schnelle Lösung, sondern nur einen Weg aus der Sucht. STERN PAID Gesund Leben 2021_2 Leber Galle Niere 11.00
Hier meine Tipps zum Umgang mit einer an Bulimie erkrankten Person:
- Beobachten Sie Auffälligkeiten und notieren Sie sich diese. So behalten Sie den Überblick, was für Sie "normal" ist. Auf die Weise verschiebt sich die Grenze auch nicht unauffällig.
- Sprechen Sie Ihre Beobachtungen immer wieder an. Auf Augenhöhe. Meint, nicht die Verantwortung für das Verhalten zu übernehmen und Einfluss nehmen zu wollen, sondern lediglich dem Kind die krankhaften Veränderungen sichtbar zu machen. Achten Sie dabei auch darauf, ob Sie selbst mit den Auswirkungen der Krankheit noch leben und umgehen möchten oder ob es Sie selbst an ihr Limit bringt.
- Versuchen Sie nicht, die Krankheit des Kindes kontrollieren zu wollen oder mit "guten Essensangeboten" Einfluss zu nehmen. Beides hilft nicht. Das Leben ihres bulimiekranken Kindes dreht sich schon um Essen und Erbrechen – sorgen Sie dafür, dass die Bulimie nicht zusätzlich noch zu Ihrem Lebensmittelpunkt wird.
- Setzen Sie Grenzen. Nehmen Sie nicht nur Rücksicht auf Ihr Kind, sondern auf sich selbst. Sagen Sie, was Sie möchten und was sie nicht mehr möchten und ziehen Sie Konsequenzen. Wenn Sie Ihre Grenzen zeigen, kann das für Ihr Kind der Punkt sein, an dem es merkt: "Ich kann so nicht mehr (in Ruhe) weitermachen."
- Machen Sie sich keine Vorwürfe für Dinge, die Sie heute in der Begleitung Ihres Kindes anders machen würden. Sie haben Ihr Bestes gegeben. Es gibt nicht die eine Ursache, die zur Entstehung der Bulimie geführt hat.
- Achten Sie darauf, dass die Krankheit keinen "Krankheitsgewinn" bekommt, das Kind also keinen Nutzen aus seiner Erkrankung und Ihrer Sorge ziehen kann, z. B. in Form von Sonderbehandlungen.
- Geben Sie die Verantwortung für die Bulimie an ihr Kind zurück. Erst, wenn es die Verantwortung für die Krankheit übernimmt, ist die Entscheidung möglich, damit nicht mehr weiter zu machen. Sie können Ihr Kind nicht heilen, das kann das Kind nur aus sich selbst heraus. Dafür muss es selbst Hilfe wollen. Meint: Bieten Sie immer wieder offizielle Hilfsangebote an, machen davon aber nichts abhängig.
- Und sorgen Sie gut für sich selbst: Zögern Sie nicht, sich bei Bedarf selbst Hilfe zu holen. Wenn z. B. Angst oder Niedergestimmtheit unaushaltbar werden, wenden Sie sich an das Patiententelefon der kassenärztlichen Vereinigung (116117) oder die Telefonseelsorge (0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222).
* Anonymisiertes Fallbeispiel aus der Beratungspraxis des Fürstenberg Instituts. Der Fall wurde mit dem Einverständnis des Betroffenen anonymisiert.
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