Steffen Kempterer: Arbeitgeber-Chef will weniger Teilzeit und "mehr Bock auf Arbeit"? Replik auf eine freche Forderung
Arbeitgeber-Präsident Steffen Kempterer will, dass wir "mehr Bock auf Arbeit" haben. Da klingt ein frecher Vorwurf mit. Statt auf längeren Arbeitszeiten zu beharren, sollten wir über ganz andere Dinge reden.
Ich habe gerade richtig Bock auf Arbeit. Darauf, dieses Meinungsstück zu schreiben. Herr Kempterer, Ihre Aufforderung zeigt Wirkung. Steffen Kempterer, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA), findet nämlich, dass wir "mehr Bock auf Arbeit" brauchen, wie er in einem Interview mit "Table Media" sagt. Eine Debatte darüber, warum es notwendig sei, mehr zu arbeiten. Warum es genau richtig sei, darauf Lust zu haben, und ob Teilzeit wirklich "so cool" sei. Eine gute Work-Life-Balance bekomme man auch mit 39 Stunden Arbeit in der Woche noch hin.
Der Anlass: der Fachkräftemangel. Der BDA-Chef sieht Deutschlands Wettbewerbsvorteile Innovation und Produktivität in Gefahr. Ein wichtiges, hehres Anliegen. Wer wäre dagegen? Nur braucht es für Innovation und Produktivität nicht mindestens 39 Stunden Arbeitszeit pro Woche – von denen in einigen Branchen zig Stunden für Monster-Meetings und Massen-Mails draufgehen. Es braucht Menschen, die anhand ihrer Stärken und Fähigkeiten ausgebildet und gefördert werden. Die sich gesehen und geschätzt fühlen.
Experiment zu Vier-Tage-Woche in Großbritannien war ein voller Erfolg
Wenn ich mir Familien am Anschlag, Mitgliederschwund bei Vereinen, zunehmende gesundheitliche und psychische Probleme und Einsamkeit in unserer Gesellschaft ansehe, frage ich mich, ob das mit der Work-Life-Balance alles wirklich so super läuft? So lange Deutschland nicht bei der Kinderbetreuung Fortschritte macht, bleiben längere Arbeitszeiten für viele Familien ohnehin Wunschdenken. Ganz abgesehen von der Frage: Wollen sie das überhaupt? Wir sollten viel mehr auf die Anliegen derjenigen achten, die es betrifft – die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Von denen wünschen sich viele eine Vier-Tage-Woche. Und just da gibt es gute Neuigkeiten.
Das Ergebnis einer Studie aus Großbritannien animiert dazu, die Arbeitszeit innovativ und produktiv zu denken – und Innovation und Produktivität sind ja bekanntlich auch für Deutschland gut. Bei der Studie erhielten fast 3000 Beschäftigte ein halbes Jahr lang den vollen Lohn bei einer Vier-Tage-Woche, verpflichteten sich aber, 100 Prozent des vorherigen Outputs zu liefern. Es klappte. Der Umsatz der Unternehmen erhöhte sich sogar um durchschnittlich 1,4 Prozent. Es gab weniger Krankheitstage, weniger Abgänge, weniger Burn-out-Gefährdete. Frauen profitierten besonders, weil sich die Männer jetzt mehr bei der Kinderbetreuung einbrachten an ihrem freien Tag. Klingt ganz danach, als hätten da Leute mehr Bock auf Arbeit gehabt. Die allermeisten der teilnehmenden Unternehmen wollen das Konzept beibehalten.
PAID Vier-Tage-Woche UK-Experiment 18.40
Die Vier-Tage-Woche, Teilzeit bei ausreichend Lohn: darüber brauchen wir eine Debatte, nicht über eine vermeintlich verloren gegangene Freude an Arbeit und Leistung. Bei Letzterem schwingt der Vorwurf mit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seien faul. Es ist frech, das so pauschal zu sagen. Wenn sie dann irgendwann mal Feierabend haben, könnten diese Aussagen auch völlig überlastete Erzieherinnen lesen oder Chirurginnen nach einer achtstündigen OP. Oder Pfleger nach einer Nachtschicht. Journalisten, denen wegen Sparmaßnahmen gerade gekündigt wurde. Langzeitarbeitslose. Menschen in befristeten Verträgen. Menschen, die jeden Tag engagiert und motiviert ihrem Job nachgehen, häufig auch mit Überstunden.
Und jeder, der mit Teilzeitkräften zusammenarbeitet, insbesondere mit Müttern, weiß: Sie haben ihre Arbeit tendenziell besser im Griff. Weil sie keine Zeit verplempern können, weil sie Prioritäten setzen, sind sie im Beruf effizienter als viele, die Vollzeit arbeiten.
Was wollen wir eigentlich?
Mehr arbeiten, länger arbeiten – Steffen Kempterer fordert das auch mit Blick auf die Rente. Und er hat recht: Wie es ist, kann es nicht weitergehen. Wir haben ein riesiges Rentenproblem. Zu dessen Lösung gehören auch Diskussionen über die Anhebung des Rentenalters in einer Gesellschaft, die immer älter wird. Aber auch hier kann die Erhöhung der Arbeitszeit und ein "mehr Bock auf Arbeit" nicht die Lösung aller Probleme sein. Dafür stehen zu viele Säulen unseres Systems auf einem wackligen Fundament. Es sind vor allem Politik und Expertise gefragt, wie wir unser Rentensystem neu und zukunftsträchtig aufstellen können.
5 Anzeichen, dass der Job krank macht_15.21
Apropos Zukunft: Glaubt man Experten für Künstliche Intelligenz, stehen wir vor nichts Geringerem als der Revolution unseres Arbeitslebens. KI-Experte Richard Socher sagte im Interview mit dem stern, KI werde alle Jobs verändern. "Wenn immer mehr Industrien und Jobs automatisiert werden, haben wir immer mehr Zeit, das zu machen, was wir wollen. Aber dann ist die Frage: Was wollen wir eigentlich?" Vielleicht sollten wir darüber eine Debatte führen. Das wäre innovativ.
Quellen: Table Media