Psychotherapeut Philipp Lioznov: Wir sind einsam und gestresst: Wie beeinflusst unsere psychische Gesundheit unsere Lebenserwartung?
Deutschland hat Stress, das zeigen Studien immer wieder. Gleichzeitig sinkt die Lebenserwartung. Psychotherapeut Philipp Lioznov erklärt die Zusammenhänge.
Eine Studie hat zuletzt gezeigt: Wir Deutschen sind in Sachen Lebenserwartung eines der Schlusslichter in der westlichen Welt. Das hat mehrere Gründe, Ursachen finden wir auch in der Psyche. Sie forschen seit Jahren zum Thema Einsamkeit. Wie wirkt sie sich auf unsere Gesundheit aus?
Einsamkeit ist ein definitiver Vorbote oder Mitverursacher von psychischen Symptomen und geht mit einem bi zu 50 Prozent erhöhten Sterberisiko einher. Und das subjektive Gefühl von Einsamkeit wiederum verstärkt soziale Isolation – und die kann mitunter dazu führen, dass wir dauerhaft unter Stress stehen. Stress wiederum führt dazu, dass wir uns weniger in der Lage fühlen, am Sozialleben teilzunehmen. Es ist ein Teufelskreis.
Was macht dieser chronische Stress mit dem Körper?
Rein physiologisch betrachtet kann negativer Stress verheerende Auswirkungen auf den Körper haben. Bei Stress schütten wir die Hormone Cortisol und Adrenalin aus, die uns in eine Art Kampf-oder-Flucht-Modus versetzen. In akuten Gefahrenlagen ist das eine gute Reaktion des Organismus – als Dauerzustand allerdings durchaus schädlich. Zu den klassischen Gesundheitsproblemen in Folge von Dauerstress zählen Bluthochdruck, Schlafstörungen und Immunschwäche. Das Ganze kann aber langfristig sogar unsere Gehirnstruktur verändern.
Wenn Stress die Lebenserwartung beeinflusst
Chronischer Stress ist ungesund. Aber wie beeinflusst unsere psychische Gesundheit unsere Lebenserwartung konkret?
Ziemlich stark jedenfalls. Und dieser Zusammenhang wird uns auch immer mehr bewusst, das zeigt schon der regelrechte "Boom" der Psychoindustrie. Psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angstzustände und chronischer Stress werden mit einer Reihe negativer gesundheitlicher Folgen in Verbindung gebracht, die zu einer kürzeren Lebensdauer beitragen können.
Inwiefern?
Personen mit unbehandelten psychischen Störungen neigen eher zu gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen wie Rauchen, übermäßigem Alkoholkonsum, schlechter Ernährung und Bewegungsmangel. Diese Verhaltensweisen können wiederum das Risiko für die Entwicklung chronischer Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und bestimmter Krebsarten erhöhen. Und das kann unsere Lebenserwartung maßgeblich beeinflussen.
Und was ist mit den körperlichen Begleiterscheinungen von psychischen Erkrankungen?
Natürlich können psychische Erkrankungen auch die physiologischen Funktionen des Körpers direkt beeinflussen. Chronischer Stress kann beispielsweise das Immunsystem dysregulieren, Entzündungen verstärken und den Alterungsprozess auf zellulärer Ebene beschleunigen. Mit der Zeit können diese Auswirkungen zur Entwicklung altersbedingter Krankheiten beitragen und sich letztendlich auf die Lebenserwartung auswirken. Darüber hinaus gehen psychische Erkrankungen häufig mit anderen gesundheitlichen Risikofaktoren einher, wie sozioökonomische Benachteiligung, soziale Isolation und eingeschränkter Zugang zur Gesundheitsversorgung.
Ein langes Leben bringt uns nicht viel, wenn es von Leid geprägt ist. Was macht Einsamkeit mit der Lebensqualität?
Das kann nur jeder für sich selbst beantworten. Einsamkeit ist ein Gesellschaftsproblem, wer sich einsam fühlt, ist daran nicht immer selbst schuld. Fest steht aber, dass es die Möglichkeiten und Handlungsspielräume von Betroffenen erheblich einschränken und dadurch natürlich auch die Lebensqualität maßgeblich senken kann. In welchem Ausmaß, das ist aber höchst individuell.
Was kann ich selbst tun, um Einsamkeit aktiv zu verhindern?
Als Psychotherapeut bemühe ich mich, Einsamkeit aus einer ganzheitlichen Perspektive zu sehen und berücksichtige sowohl die subjektive Erfahrung des Einzelnen als auch den größeren sozialen Kontext, in dem sie auftritt. Ich ermutige meine Klienten, sich die Hintergründe der Einsamkeit einmal genauer anzusehen.
Wie kann ich mich dahingehend selbst hinterfragen?
Fragen Sie sich etwa neugierig und mit Mitgefühl: Was löst gerade meine Einsamkeit aus? Was brauche ich? Was könnte ich tun, um dieses Bedürfnis zu versorgen? Gibt es etwas, was mich daran hindert? Und dann geht es darum, sinnvolle Verbindungen zu anderen Menschen zu schaffen und zu pflegen. Suchen Sie zum Beispiel aktiv nach Möglichkeiten für soziale Interaktion, fördern Sie authentische Bekanntschaften, indem Sie an Aktivitäten teilnehmen, die Ihren Interessen und Werten entsprechen. Bei allen Bemühungen ist es aber auch wichtig, ein gesundes Maß an Selbstmitgefühl zu etablieren. Das bedeutet: Seien Sie nett zu sich selbst und erkennen Sie an, dass Einsamkeit eine normale menschliche Erfahrung ist, insbesondere in schwierigen Zeiten.
Paid Wo die fitten Senioren leben_17.00
Der Weg aus dem Dauerstress
Einsamkeit ist die eine Folge von Krisenzeiten, Dauerstress die andere. Was kann ich insbesondere in unserer Leistungsgesellschaft dagegen machen?
In der Praxis kommen tatsächlich oft Probleme auf, die aus der Tatsache heraus entstehen, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Produktivität oft Vorrang vor Wohlbefinden hat. Allein diese Erkenntnis ist schon enorm hilfreich. Unsere psychische Gesundheit ist nicht nur ein individuelles Thema, sie wird auch von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen bestimmt. Systemische Ungleichheiten wie Armut, Diskriminierung und mangelnder Zugang zu Ressourcen können sowohl Einfluss auf die psychische Gesundheit Einzelner als auch auf das Wohlbefinden ganzer Gemeinschaften haben.
Wie hilft uns dieses Wissen dabei, vielleicht etwas stressfreier durchs Leben zu kommen?
Indem wir die Verbundenheit persönlicher Kämpfe und gesellschaftlicher Herausforderungen anerkennen, können wir auf die Schaffung eines unterstützenden und gerechteren Umfelds hinarbeiten, in dem jeder die Möglichkeit hat, sich zu entfalten. Bis es soweit ist, kann aber natürlich jeder individuell auch etwas für sein Stressmanagement tun. Es kann schon helfen, zwischendurch einfach mal bewusst durchzuatmen und sein Stresslevel kritisch zu hinterfragen. Wie geht es mir gerade eigentlich wirklich? Wenn wir im Alltagstrott sind, vergessen wir selbst das oft.
Was kann ich außerdem tun?
Oft hilft es, realistische Erwartungen an sich selbst als Maßstab zu nehmen, sich nicht zu große Ziele zu setzen und Grenzen zu setzen, um das eigene Wohlbefinden und die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren. Und einen gesunden Selbstwert zu etablieren. Wir sind nicht, was wir leisten – sondern Menschen, die auch ohne Leistung wertvoll sind. Wenn wir das einmal verstanden haben, fällt schon sehr viel Druck ab. Und ja, ein soziales Umfeld mit Menschen, die es gut mit einem meinen ist ohnehin Gold wert für unsere psychische Gesundheit.